May 18, 2020
Vergiss alles, was du über Versicherungen weißt. Alles im Nu. Dufte Preise. Großes Herz.
Damit wirbt der digitale Versicherer Lemonade auf seiner Website und beschreibt sich dort selbst als Hausrat- und Privathaftpflichtversicherung für Andersdenker. Dabei wird mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz eine individuelle Versicherung für den Kunden erstellt. Lemonade unterscheidet sich in einigen Punkten deutlich von herkömmlichen Versicherungsunternehmen – und das wird bereits durch die Webpräsenz ersichtlich: Es sind dort weder langweilige Stockfotos noch graue Buttons oder verschachtelte Menüs zu finden. Stattdessen bewirbt das InsurTech seine Policen mit einfach verständlichen Illustrationen und erklärt den kinderleichten Abschluss der Versicherung mithilfe von Videos.
Das InsurTech wurde 2015 in New York gegründet und verkauft seit Herbst 2016 digitale Policen. Lemonade ist mit einem A-Rating eingestuft und vollständig lizensiert. Zu den Geldgebern zählen mit der Allianz und Axa auch zwei prominente Versicherer. Darüber hinaus ist Lemonade B-Corp zertifiziert, soziales Engagement ist Teil der rechtlichen Vorgaben sowie des Geschäftsmodells. Seit Mitte 2019 ist das Unternehmen auch auf dem deutschen Markt aktiv, das Geschäft wird von Amsterdam aus geleitet – mit nur vier Mitarbeitern. Der Grund für die Auswahl von Deutschland für den ersten internationalen Launch war die Vereinigung der sehr traditionellen Versicherungsbranche mit einem sehr zukunftsorientierten, digitalen Verbraucher.
Der US-Versicherer stellt das traditionelle Versicherungsmodell auf den Kopf. Die Devise lautet: einfach und transparent sein. Ein Anteil des Beitrags wird genutzt, um auftretende Schadensfälle zu begleichen und die Kosten der Rückversicherung (und weitere Fixkosten) zu decken, der Restbeitrag wird an einen wohltätigen Zweck gespendet. Die Kunden entscheiden mit, wohin das Geld fließt. Ein interessanter Aspekt dabei: Es steht im Ermessen des Vorstands, ob der Gewinn vollständig, teilweise oder gar nicht gespendet wird. In den vergangenen Jahren wurden mit Kundenbeiträgen beispielsweise ein Wassersystem in Afrika finanziert und Häuser in Mittelamerika gebaut. Versicherungsnehmer, die den gleichen guten Zweck unterstützen, werden wie virtuelle Gruppen (Peers) betrachtet. Lemonade verwendet die von jeder Peer-Gruppe gesammelten Beiträge, um die Schadensfälle dieser Gruppe zu bezahlen und das übrige Geld für deren gemeinsamen guten Zweck zu spenden. Falls Schadensfälle den Geldbetrag des Gruppen-Pools übersteigen, wird die Rückversicherung zur Deckung von Schäden genutzt. Die monatliche Vertragslaufzeit ist jederzeit kündbar.
Lemonade hat 2019 eine kollaborative Open Source Versicherungspolice eingeführt, bei der Kunden und Versicherungsexperten gemeinsam die Police erarbeiten. Die Police 2.0 ist eine radikal vereinfachte, modernisierte und digitalisierte Versicherungspolice. Auf nur vier Seiten wird kurz und knapp sowie in einfachen Worten beschrieben, was abgedeckt ist, was nicht und die Police umfasst zweifachen Schutz: Eine Hausratversicherung und eine private Haftpflichtversicherung, die via App oder Website abgeschlossen werden können. Nach nur wenigen Angaben und Klicks wissen die Nutzer, wie viel sie pro Monat zahlen müssen. Auch die Schadenmeldung erfolgt komplett digital und online. Damit möchte sich das InsurTech von den sonst so undurchsichtigen und veralteten Policen, die auf dem Markt existieren, absetzen und frischen Wind auf den deutschen Versicherungsmarkt bringen.
Muss ein Kunde einen Schaden melden, funktioniert das über die App und einen Klick auf den Schaden-Button. Der Versicherer bittet die Kunden darum, den Vorfall mit eigenen Worten in einem Video zu schildern. Für Notfälle und Situationen ohne Online-Zugang gibt es eine Telefonnummer. Schadensfälle werden vom KI-Bot und nur bei Bedarf vom Team bearbeitet. Sobald eine Schadensforderung genehmigt wurde, wird die Zahlung abzüglich des Betrags der Selbstbeteiligung (falls vereinbart) direkt auf das Kundenkonto überwiesen. Ziel ist es, die meisten einfachen Schäden sofort zu bezahlen. Es gibt aber auch Fälle, in denen der Vorfall vollständig überprüft wird, bis der Schadensfall genehmigt wird. Längere Bearbeitungszeit gibt es bei Kunden, die bereits mehrere Schäden gemeldet haben, oder wenn benötigte Informationen im Bericht fehlen. Ein Drittel der Schäden wird vollautomatisch abgewickelt. Für die wenigen Schäden, bei denen jemand vor Ort sein muss, nutzt Lemonade ein Netzwerk von Sachverständigen.
Die sehr günstigen Beiträge und die Zusage von Lemonade, 40 Prozent der eingenommenen Beiträge für gute Zwecke zu spenden und 20 Prozent als Notgroschen vorzusehen, machen skeptisch, denn die branchenweite Schaden-Kosten-Quote liegt bei 89,7 Prozent (Stand 2018).
Lemonade haftet nicht für:
Außerdem gibt es bei Lemonade eine Beschränkung der maximalen Schadenserstattung von 2.000 Euro pro Gegenstand. Gegenstände, die diesen Wert übersteigen, müssen extra gemeldet und gegen Aufpreis zusätzlich versichert werden. Den Extra-Schutz muss Lemonade zuvor genehmigen. Kritiker befürchten, dass im „Kleingedruckten“ weitere Ausschlüsse versteckt sein könnten. Zudem leistet Lemonade bei Schäden durch grob fahrlässiges Verhalten nur bedingt. Der digitale Versicherer verzeichnete einen Umsatzanstieg von 10,1 Millionen US Dollar im Jahr 2017 auf 57 Millionen US Dollar im Jahr 2018. Die Anzahl der Policen legte nach Unternehmensangaben auf mehr als 425.000 zu. Allerdings hat Lemonade die Schadenquote zwar zwischen dem ersten Quartal 2018 und dem ersten Quartal 2019 auf 87 Prozent nahezu halbiert. Für die Branche ist sie aber immer noch zu hoch (im Vergleich: bei Axa Deutschland betrug sie nach Unternehmensangaben 62,2 Prozent).
Lemonade betont, dass sie nicht mit Vergleichsportalen wie Check24 und Co. zusammenarbeiten würden. Viel mehr setzen sie auf persönliche Weiterempfehlungen und digitale Werbung, um das Wachstum zu steigern. Daten will der Versicherer vertraulich behandeln und bestätigt, dass die Bestimmungen der DSGVO eingehalten werden. Das Versicherungsunternehmen bietet günstigen Schutz, doch weder der Hausrat- noch der Haftpflichtschutz erfüllen die Mindestanforderungen, welche Stiftung Warentest an einen Versicherungsschutz stellt.
Natürlich ist nicht alles Gold was glänzt, dennoch zeigt Lemonade mithilfe von User Experience, wie insbesondere die jungen, IT-affinen Kunden erfolgreich angesprochen werden können. Die Schadenquote ist zwar zu hoch, auch ist das Geschäftsmodell noch lang kein disruptives. Trotzdem gilt der digitale Versicherer als Pionier für eine „Generation, die es gewohnt ist, global unterwegs zu sein“: Lemonade wird den deutschen Versicherungsmarkt weiter anheizen, vor allem wenn es darum geht, „digitale Kunden“ zu erreichen und anzusprechen. Letztendlich wird die Zeit es zeigen, ob sich das InsurTech langfristig gegen die etablierte Konkurrenz durchsetzen kann.
Innovation and Business Designer, Part of the Management Team